FASD und erlebte frühkindliche traumatische Erfahrungen
Menschen mit FASD erleben außerordentlich viele Herausforderungen in ihrem Leben.
• Lässt sich dies vordergründig auf ihre Behinderung zurückführen?
• Oder sind Erlebnisse, die sie im Laufe ihres Lebens machen, insbesondere in der frühen Kindheit, für den weiteren Verlauf des Lebens nicht zu unterschätzen und findet dies ausreichen Beachtung in der Arbeit mit den jeweiligen Menschen?
Der folgende Eintrag befasst sich daher damit inwiefern erlebte frühkindlichen traumatische Erfahrungen sowie ihre Verarbeitung bei Menschen mit FASD und ihrer persönlichen Entwicklung relevant sind. Hierfür werden u.a. internationale Studien hinzugezogen, indem Ergebnisse dieser aufgezeigt werden.
Primäre vs. Sekundäre Beeinträchtigungen – Ergebnisse Internationaler Studien
In Fachkreisen wird bei FASD zwischen primären und sekundären Beeinträchtigungen unterschieden. Primäre Beeinträchtigungen sind die angeborene Beeinträchtigung aufgrund der intrauterinen Alkoholexposition, wie die Beeinträchtigung des körperlichen Wachstums, die Organbildung und vor allem entscheidende Fehlbildungen im Zentralen Nervensystem (ZNS). Es liegen dann Störungen im Bereich aller funktionalen Hirneinheiten vor, wie z.B.: Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen, sowie Planung, Ausführung und Kontrolle von Verhalten.
Laut internationalen quantitativen Studien ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Menschen mit FASD im Laufe ihres Lebens sekundäre Beeinträchtigungen entwickeln. Ausschlaggebend ist hier u.a. wie spät eine Diagnose gestellt wurde und welche Unterstützungsangebote hinzugezogen wurden.
Zu den Sekundären Beeinträchtigungen zählen u.a. Schulabbrüche, Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, Obdachlosigkeit, Konflikte mit dem Gesetz, Suizidalität und Suchterkrankungen.
Von Beziehungsabbrüchen-Erkenntnissen zu der Variable Trauma
Eine interessante Erkenntnis der Studien ist zudem, dass der Großteil der erfassten Menschen mit FASD häufig schon sehr früh mehrere Beziehungsabbrüche erlebt haben und nicht bei ihren Ursprungfamilien aufgewachsen sind. Diese Informationen haben sich in ausgewerteten Studien aus Deutschland, Kanada und USA gezeigt.
Die kanadische Studie Difficulties in daily living experienced by adolescents, transition‐aged youth, and adults with fetal alcohol spectrum disorder (2020) hat die Variable Trauma hinzugezogen. Ergebnisse zeigen auf, dass 51% der Probanden frühkindliche traumatische Erfahrungen erlebt haben.
Demnach ist nicht nur eine frühe FASD-Diagnose, sondern auch die Unterbringung in einem stabilen fördernden Umfeld und ein Nicht-Erleben von frühkindlichen traumatischen Erfahrungen protektive Faktoren zur Vermeidung von vielen sekundären Beeinträchtigungen.
Was können frühkindliche traumatische Erfahrungen sein?
Der Begriff Trauma stammt aus dem Griechischen und bedeutet Wunde. Zu dem Grundverständnis zählt, dass aufgrund eines Traumas eine Verletzung bzw. eine seelische Wunde entsteht
Zu frühkindlichen traumatischen Erfahrungen gehören erlebte psychische und physische Gewalt, hierzu gehören u. a. Kindesvernachlässigung, körperliche und psychische Misshandlung, sexueller Missbrauch und häusliche Gewalt.
Zudem kommt es häufiger zu Gewalttaten gegenüber Kindern innerhalb der Familie, wenn sie eine geistige oder körperliche Unreife bzw. eine Entwicklungsverszögerung aufweisen
Mögliche Folgen
Frühkindliche traumatische Erfahrungen können erhebliche negative Folgen für die Hirnentwicklung haben. Dies hat wiederum Auswirkung auf die daraus resultierende Lebensbewältigung. Langfristig werden dann emotionale und/oder kognitive Auffälligkeiten vorzufinden sein und äußern sich als herausforderndes Verhalten.
Besonders schwerwiegende Folgen haben traumatische frühkindliche Erfahrungen, wenn sie durch Eltern oder andere nahestehenden Personen hervorgerufen werden. Diese Erfahrungen wirken sich auf die Entwicklung des Individuums aus – Inwieweit hängt vom Entwicklungsstand der heranwachsenden Person ab und ob das Umfeld einen Umgang mit dem traumatischen Geschehnis findet. Es ist maßgebend dafür ob und wie die Entwicklung fortan beeinflusst wird.
Kindesvernachlässigung bei Kindern mit Beeinträchtigungen
Bei Familien mit beeinträchtigten Kindern geschieht häufig durch die erlebte Überforderung eine Kindesvernachlässigung, wenn keine oder nicht ausreichende Unterstützung gegeben ist. In den für die Entwicklung entscheidenden frühen Jahren wird häufig in den lebensweltlichen Strukturen nicht rechtzeitig Hilfe hinzugezogen. Daher treten oftmals weitere Begleiterscheinungen auf. Es wäre demnach unzureichend den Menschen auf eine vordergründige Diagnose zu reduzieren.
https://www.reinhardt-journals.de/index.php/vhn/article/viewFile/233/2025
Nicht auf FASD reduzieren
Die hinzugezogenen FASD-Studien zeigen auf, dass erfahrene frühkindliche traumatische Erfahrungen und Familienverhältnisse eine gewichtige Rolle bzgl. der Entwicklung von Sekundären Beeinträchtigungen, spielen. In der Praxis scheinen Menschen mit FASD – und ihre erlebten Herausforderungen – jedoch häufig auf ihr FASD reduziert zu werden.
Es ist also eine genauere Betrachtung gefordert, die das Verständnis und die Aufarbeitung erlebter frühkindlicher Traumata, die Menschen mit FASD erfahren haben können, miteinbezieht – sowie eine angemessene Schaffung eines Unterstützungsangebot diesbezüglich.
Lebensweltorientierte Angebote
FASD fordert eine gute Vernetzung und Zusammenarbeit aller Akteure. Wichtig ist hierbei, zudem ein lebensweltorientiertes Angebot.
Lebensweltorientierte Konzepte bei Menschen mit Behinderungen beinhalten, dass nicht nur der Mensch mit der Beeinträchtigung Unterstützung bedarf, sondern auch das dazugehörige Umfeld, wie die Familie, soziale/nachbarschaftliche Beziehungen, evtl. die Arbeitsstelle und eben auch andere Institutionen.
Um angemessene lebensweltorientierte Angebote für Menschen mit FASD zu schaffen, müssen diese Sozialraumorientiert sein und dürfen nicht auf eine Zuweisung von höheren Instanzen warten.
Weitere relevante Ergebnisse
Wichtig zu erwähnen ist zum Abschluß, dass Menschen mit FASD, denen ihre Schädigung anzusehen ist (Vollbild, FAS), weniger sekundäre Beeinträchtigungen vorweisen. Dies zeigte Streissguths Forschungsergebnisse (1996;2004), eine US-amerikanische Langzeitstudie, die ca. 400 Jugendliche und junge Erwachsene begleitete.
Nur ein kleiner Teil der Menschen mit FASD entwickelt das Vollbild, das Fetale Alkoholsyndrom (FAS). Ihnen ist ihre geistige Beeinträchtigung durch äußerliche Merkmale anzusehen. Viele jedoch weisen keine äußerlichen Merkmale auf, haben aber trotzdem neuropsychologische und kognitive Einschränkungen.
Daraus ist zu schließen, dass Menschen, denen ihre Behinderung anzusehen ist von ihrer Umwelt und der Gesellschaft mehr geschützt und weniger gefordert werden.
Literatur
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