Das Risiko eine Suchterkrankung zu entwickeln, ist bei Menschen mit einer Fetalen Alkoholspektrumstörung deutlich erhöht. Zudem gehen Suchterkrankungen meist mit einer Vielzahl anderer psychischen Belastung einher.
Sucht – Sekundäre Beeinträchtigung
Suchterkrankungen bei Menschen mit FASD werden als sekundäre Beeinträchtigungen verstanden. Zu den sekundären Beeinträchtigungen gehören ebenfalls u.a.: Schulabbruchserfahrungen, Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, Obdachlosigkeit, Konflikte mit dem Gesetz, Suizidalität.
Bisher bekannte Gründe für einen allgemeinen Substanzmissbrauch bei Menschen mit FASD sind u.a. Lebensbedürfnisse, welche aufgrund von erlebten Herausforderungen nicht bzw. nicht ausreichend befriedigt werden können.
Zahlen
Die US-amerikanische Langzeitstudie Understanding the occurrence of secondary disabilities in clients with fetal alcohol syndrome (FAS) and fetal alcohol effects (FAE) (Streissguth 1996;2004), ergab, dass im Schnitt 45% der 400 Probanden eine Suchtmittelabhängigkeit vorgewiesen haben. Zahlen und Studien diesbezüglich für den deutschsprachigen Raum gibt es liegen uns bisher noch nicht vor.
Neurowissenschaften
Die Neurowissenschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten grundlegende Erkenntnisse über die Funktionsweise des Zentralen Nervensystems gewonnen. Ein tieferes Verständnis der Mechanismen der hochkomplexen dynamischen Steuerfunktionen des Zentralen Nervensystems, welches bei Menschen mit FASD aufgrund der intrauterinen Alkoholexposition nachhaltig geschädigt worden ist, kann somit mit Hilfe der Neurowissenschaften analysiert werden.
Neuronenstörung erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Suchterkrankung
Neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse der Universität am Buffalo Research Institut (National Instituts for Alcohol Abuse and Alcoholism) konnten 2017 einen sichtbaren Zusammenhang zwischen einer Suchtmittelabhängigkeit und dem pränatal Alkoholgeschädigten Gehirn präsentiert. Es wurde untersucht, wie die pränatale Alkoholbelastung das Belohnungssystem im Gehirn verändert und wie sich diese Veränderung bis zum Erwachsenenalter hinein auswirkt. Die Ergebnisse dieser Studie legen dar, dass eine bereits vorhandenen Neuronenstörung die Wahrscheinlichkeit einer Suchterkrankung erhöht.
Endocannibinoiden scheinen nach neurowissenschaftlicher Erkenntnis der hier genannten Studie der Schlüsselbegriff zu sein. Sie sind mit Cannabis vergleichbare Substanzen, die vom Gehirn selbst produziert werden. Sobald das pränatale Gehirn Alkohol ausgesetzt ist, wird die Wirkung der Endocannibinoide herabgesetzt und die Rezeptoren werden gehemmt. Somit regieren Neurone, die Dopamin als Neurotransmitter benutzen, bei einem pränatal Alkoholgeschädigten Gehirn empfindlicher. Dopamin beeinflusst die Emotionen, insbesondere Positive (Belohnungssystem) und spielt bei der Entwicklung von Suchterkrankungen eine maßgebende Rolle.
Diese Neuronenstörung hat demnach zur Folge, dass das bereits geschädigte Gehirn sensibler auf Suchtmittel reagiert, so dass dann kleinere Mengen benötigen werden, um an einer Suchtmittelabhängigkeit zu erkranken.
https://www.buffalo.edu/news/releases/2017/07/005.%20html
Die Notwendigkeit von Vernetzung unterschiedlicher Disziplinen
Menschen mit FASD bringen häufig einen komplexen Hilfebedarf mit sich, welcher mit Hilfe von unterschiedlichen Disziplinen betrachtet werden sollten. U.a. können die hier erwähnten Neurowissenschaften Erkenntnisse und Ansätze liefern, um Menschen mit FASD und ihre erlebten Herausforderungen ganzheitlich verstehen zu können, welche wiederum die Möglichkeit bieten unterschiedliche und passende Unterstützungsmodelle zu entwickeln und anbieten zu können. Um dieses Ziel verfolgen zu können, gehört zur Praxis auch eine konstruktive, kontinuierliche, zeitnahe und interdisziplinäre Kommunikation, zwischen allen involvierten Akteuren.
Literatur:
Becker, Gela/Hennick, Klaus/ Klein, Michael (2015): Suchtgefährdete Erwachsene mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen. Diagnostik, Screening Ansätze und Interventionsmöglichkeiten. Berlin: De Gruyte
Ordenwitz, Lisa/Schlüter, Julia A./Weinmann, Tobias/Hannibal, Iris/Kusser, Franziska/Parisi, Carmen/Moder, Judith/Renate, M. Giese, Heinen, Florian/Landgraf, Mirjam N. (2020) Kinder und Jugendliche mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen. Mehr Bewusstsein für ein unterschätztes Leiden. In: Pädiatrie 2020/32 (S1). S. 36-40
Streissguth, A. P./Barr, H. M./Kogan, J./Bookstein, F. L. (1996): Understanding the occurrence of secondary disabilities in clients with fetal alcohol syndrome (FAS) and fetal alcohol effects (FAE). Final report to the Centers for Disease Control and Prevention (CDC), 96-06.
Streissguth, A. P./Bookstein, F. L./Barr, H. M./Sampson, P. D./O’malley, K./Young, J. K. (2004): Risk factors for adverse life outcomes in fetal alcohol syndrome and fe-tal alcohol effects. Journal of Developmental & Behavioral Pediatrics, 25(4), 228-238.
Wild, Cathy (2017): Why does prenetal alcohol increase the likehood of addiction. Online im Internet: http://www.buffalo.edu/news/releases/2017/07/005. html (letzter Zugriff 15.05.2023)